Hans Conrad Zander


„Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf.“
— Faust, Vers 23
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Hans Conrad Zander ist 1937 in Zürich geboren. Er war Mönch im Dominikanerorden, 16 Jahre lang Reporter des „Stern“ (Kisch-Preis 1983), sodann Gastprofessor an der Universität Essen. Bekanntgeworden ist er als Autor des WDR („Zeitzeichen“ von 1972 bis heute) und als Verfasser von Sachbüchern und Satiren zur Geschichte, vor allem zur Religionsgeschichte („Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter“; „Zanderfilets“; „Zehn Argumente für den Zölibat“; „Von der richtigen Art, den Glauben zu verlieren“). Von ihm stammt der Begriff „Selbstironische Katholizität“. Seine persönliche Lebenseinstellung ist geprägt von der historischen Begegnung mit den ägyptischen Wüstenvätern und von weiten Reisen und Wanderungen durch fast alle Wüsten der Erde. Er ist verheiratet und lebt in der Kölner „Indianersiedlung“, die ihren Namen seinem Buch „Minnesota in Köln“ verdankt.


Dass ich nach meiner ersten Reportage Henri Nannen vorgestellt worden sei, wage ich nicht zu behaupten. Ich wurde ihm, im Gegenteil, regelrecht vorgeführt. Auf dem „Affenfelsen“ an der Alster in Hamburg, wo der „Stern“ lange Zeit gemacht wurde, empfing er mich in einem Ledersessel mit so mächtiger Rückenlehne, und sein Bauch, zur Sessellehne passend, wölbte sich unterm Hemd so mächtig vor, dass mir schien, ich trete nicht vor einen modernen deutschen Illustriertenchef, sondern vor einen altjapanischen Kriegsherrn. „Sie sind also“, sagte er, „der davongelaufene Mönch, der so gute Reportagen schreibt.“ Er musterte mich ohne Sympathie: „Na, dann erzählen Sie mir etwas über ihr Verhältnis zu Gott.“

Die gezielte Taktlosigkeit des Mächtigen. Ich nahm sie hin. Hoch auf dem Affenfelsen in Hamburg begann ich von Gott zu reden. Henri Nannen hörte zu. Er schloss die Augen. Mir schien, er höre gesammelt zu.

Und dann das Unfassbare: ein jähes Schnarchen. Ein Schnarchen nicht hoch aus einer neudeutschen Nase, sondern tief aus einem altjapanischen Bauch. Henri Nannen hatte die Augen nicht geschlossen, weil er sich sammeln wollte. Er war eingeschlafen.

Im Schlaf holte er mich aus einer Kirche, die sich, merkwürdig genug, im gleichen Zustand befand wie die Illustrierte „Stern“. Noch stand das alte, grandiose katholische Gefüge. Noch war dies die grösste Kirche aller Zeiten. Aber die Dekadenz hatte begonnen. Wie zu erwarten mit einer Blüte. Mit dem Reformeifer des Konzils. „Bekehrung zu Welt“ war die Losung, an die ich mit der gleichen illusionären Naivität glaubte wie eine ganze Generation von katholischen Intellektuellen. Wir brauchten uns nur der Welt zu öffnen, davon waren wir überzeugt, und alles, alles würde heil.

Bekehrung zur Welt. Vom Mönch zum „Stern“-Reporter. Im Schlaf liess Henri Nannen die theologische Illusion journalistische Wirklichkeit werden.

Weiterlesen in: Lob der Dummheit. 15 Reportagen mit Sinn. Band 3 der Gesammelten Werke, LIT Verlag Münster 2004.