Kaiserinmutter Helena im religiösen Kaufrausch

Sicher habt ihr alle schon viel Böses über Kaiserinmutter Helena gehört: Über ihre wilden Jugendjahre in einer Schenke am Bosporus, und wie sie, im Tross des Römischen Heeres, aufstieg zur Konkubine von Kaiser Constantius. Wie sie sodann, von ihrem Sohn Konstantin zur Augusta Imperatrix befördert, den kaiserlichen Hof gnadenlos tyrannisierte, dies alles und noch sonst viel Böses habt ihr alles längst gehört. Da wird es Zeit, dass ich euch über Kaiserinmutter Helena auch einmal etwas Gutes berichte. Wie aus der wilden Helene im reifen Alter die fromme Helene geworden ist, schliesslich gar, im ganz hohen Alter, die heilige Helena, „dieses lasst uns mit Bemühn / heute in Erwägung ziehn“.

Anno 312, als ihrem Sohn vor der Schlacht an der Milvischen Brücke ein leuchtendes Kreuz am Himmel erschien, dazu die Prophezeiung „In diesem Zeichen wirst du siegen“, da, so heisst es, habe Konstantin selber die göttliche Botschaft gar nicht verstanden. Kaiserinmutter Helena aber verstand sofort. Nicht etwa nur das kurz am Himmel aufgeflammte Zeichen, nein, das echte, das „Wahre Kreuz“, sollte ihren Sohn, ja es sollte das ganze Römische Imperium immerdar beschützen. Wo aber war es das „Wahre Kreuz“, das auf Golgatha gestanden hat? Helene fragte Mönche, Bischöfe, Patriarchen. Keiner wusste es.

Doch Kaiserinmutter Helena war eine jener Frauen, die, wenn sie einmal eine Idee haben, nicht mehr davon ablassen. Schon fast achtzigjährig schiffte sie sich im Jahr 326 von Konstantinopel nach Palästina ein. Auch dort leider nichts als Enttäuschungen. Kein Christ hatte die geringste Ahnung, wo das Kreuz Jesu geblieben sein könnte. Da, im letzten Augenblick, so berichtet der Historiker Sozomenos, trat ein weiser alter Jude vor die Augusta Imperatrix. Er besitze uralte Dokumente, Pläne gar, aus denen punktgenau hervorgehe, wo das Wahre Kreuz in Jerusalem versteckt liege. Und er führte Helena zu jener Stelle, wo heute die Grabeskirche steht. Dort deutete er auf den Boden: „Hier! Genau hier!“

Helenas Leibwache brauchte kaum zu graben, da kam schon das Wahre Kreuz hervor. Erstaunlich gut erhalten. Ja geradezu neu. „Weitergraben!“ mahnte der Alte. Und siehe, von der Dornenkrone, bis zu den Nägeln, mit denen Jesus gekreuzigt war, ja bis hin zur Tafel mit der Inschrift „INRI“, auch sie wie neu gemalt, kam alles wunderbar zutag. Sogar der Schwamm, mit dem ein Soldat Jesus getränkt hat, war noch so feucht, als wäre er gestern erst in Essig getaucht worden. Kaiserinmutter Helena war überwältigt. Der weise alte Jude aber liess sich taufen und ward alsbald erhoben zum Bischof von Jerusalem.

Kaum hatte sich der Fund des Wahren Kreuzes herumgesprochen, kamen alle möglichen Leute mit bisher verschollenen Reliquien zur Kaiserinmutter gelaufen. Nach ihrem Prinzip „Geld spielt keine Rolle“ gelang es Helena, die nahtlose Tunika Christi zu erwerben, jenen Heiligen Rock, der später nach Trier gelangte, sowie, am wichtigsten, die kostbaren Gebeine der Heiligen Drei Könige. Zum Kentern vollgeladen mit Reliquien war das kaiserliche Schiff, mit dem sie nach Konstantinopel zurückgesegelt kam, von allem Volk am Hafen jubelnd empfangen als heilige Helena.

So entwickelte sich am byzantinischen Hof ein eigentliches Damenprogramm: Während die Kaiser Krieg führten, waren die Kaiserinnen und vor allem die Kaiserinmütter damit beschäftigt, quer durch den Orient, als heiligen Schutz für das Byzantinische Reich, alle nur denkbaren Überreste christlicher Märtyrer zusammenzukaufen.

Und jetzt die Frage aller Fragen: Wenn Konstantinopel, seit Helenas Tagen, so vollgestopft war mit schützenden Reliquien, wie war es dann möglich, dass ein muslimisches Heer die allerchristlichste Stadt am 29. Mai 1453 erobern konnte?

Ich will euch sagen warum: Wir selber sind daran schuld. Wir Christen des Westens. Statt, wie vom Papst befohlen, das Heilige Land zu befreien, fielen wir auf dem 4. Kreuzzug über Konstantinopel her und plünderten im Jahr 1204 die allerchristlichste Kapitale bis zur völligen Verwüstung. Zu Schiff, zu Pferd, auf Eseln und Ochsenkarren ging es mit den immensen Reliquienschätzen vom Bosporus nach Westen ab.

Wie sich all diese unzähligen Reliquien auf dem Transport nach Westen noch einmal wunderbar vermehren konnten, bleibt ein Rätsel, das die Historiker auf den Begriff „Reliquien-Multiplikation“ gebracht haben. Vom Wahren Kreuz der heiligen Helena etwa hatten französische Kreuzritter, nach ihrem eigenen Bericht, in Konstantinopel „einen Balken etwa von der Länge eines Männerbeines“ gestohlen. Jetzt wurden im Westen so viele Splitter davon feilgeboten, dass der Humanist Erasmus von Rotterdam spotten konnte, Jesus müsse an einem ganzen Wald von Kreuzen gehangen haben.

Doch warum hatte Kaiserinmutter Helena so hartnäckig nach dem Kreuz gesucht? Weil es, nach der Auferstehung, undenkbar schien, von Jesus selbst körperliche Überreste zu finden. So etwas wie der riesige Backenzahn Buddhas, der heute noch auf Ceylon verehrt wird, schien beim Auferstandenen unmöglich.

War es wirklich unmöglich? Nein. Jesus war ein kleiner Jude gewesen. Lange vor der Auferstehung war er beschnitten worden. Da konnte es nicht lange dauern, bis byzantinische Reliquienjäger die „Heilige Vorhaut“ entdeckten. In Frankreich angekommen sind allerdings zehn Vorhäute. Bis dann im Jahr 1610 der Reif des Planeten Saturn entdeckt wurde und Leone Allacci, ein römischer Theologe, die These verbreitete, dieser Reif des Saturn sei nichts anderes als die Vorhaut Jesu, die gleich nach der Beschneidung separat zum Himmel aufgefahren sei. Und so seien die zehn französischen Vorhäute allesamt als Fälschungen entlarvt.

Die grösste Reliquien-Inflation aller Zeiten aber fand, wie zu erwarten, in Deutschland statt. Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, ist bekannt als Beschützer Martin Luthers. Jedoch war er weise genug, selber katholisch zu bleiben. Seine Reliquiensammlung, das „Wittenberger Heiltum“, umfasste 18.870 Reliquien, darunter Brosamen vom Letzten Abendmahl, die Zehe des Dulders Lazarus, Manna aus der Wüste, den Brennenden Dornbusch, Stroh von der Krippe Jesu, sowie – Thilo Sarrazin wird es gar nicht gerne hören – das Kopftuch der Jungfrau Maria.

Längst sind die Wittenberger Reliquien in alle protestantischen Winde zerstreut. Trauern wir ihnen nicht nach. Was einstmals Konstantinopel war, die wahre Metropole christlicher Reliquien, das ist heute das heilige Köln. Zu Recht schätzt der Kölner Stadthistoriker Martin Stankowski, dass keine Stadt der Christenheit pro Quadratmeter soviele Reliquien besitzt wie Köln. Oder wart ihr noch nie in der Kirche Sankt Ursula? Dann aber schnell hin! Ein ganzes Gewölbe, die „Goldene Kammer“, ist dort verziert mit den Gebeinen jener elftausend Kölnerinnen, die, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, zusammen mit der heiligen Ursula das Martyrium erlitten haben. Oder wart ihr noch nie in der Dominikanerkirche in der Lindenstrasse? Dann nichts wie hin! Dort ist jenes kostbare Stück Holz vom Wahren Kreuz ausgestellt, das Kaiserinmutter Helena entdeckt und König Ludwig der Heilige später dem heiligen Albertus Magnus von Köln geschenkt hat. Oder wart ihr überhaupt noch nie im Kölner Dom? Da strahlt, hoch überm Altar, der schönste aller „Helenenfunde“. Das ist der Schrein mit eben jenen Gebeinen der Heiligen Drei Könige, die Kaiserinmutter Helena einst heimgebracht hat aus Jerusalem.

Die wertvollsten Reliquien Kölns aber werdet ihr nie zu sehen bekommen. Sie befinden sich in Privatbesitz. Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich selber die schönste Reliquiensammlung von Köln besitze. Und doch …

Schaut her! Hier, ganz in Gold, ein Knöchelchen des heiligen Franziskus: hilft gegen Kopfweh und Pest. Hier ein Stück aus dem Schulterblatt des heiligen Joseph: hilft gegen Augenleiden. Hier ein gebrochener Knochen der heiligen Franziska von Rom: hilft gegen Auto-Unfälle. Hier, in Silber gefasst, ein Knöchelchen des heiligen Karl Borromäus: hilft gegen Bauchweh, Magenkrämpfe und Geschwüre.

Ihr lacht? Auch meine ungläubigen Freunde haben über meine Reliquien immer nur gelacht. Abergläubisch wie Ungläubige sind, haben sie dafür an Ärzte geglaubt, an Medikamente. Und dann? Dann sind sie, einer nach dem andern, gestorben. Ich aber bin schon fast so alt wie Kaiserinmutter Helena. Und erfreue mich blühender Gesundheit. Denn ich glaube nicht an die Pharma-Industrie, sondern, viel vernünftiger, an Reliquien.

Jetzt lacht ihr nicht mehr! Jetzt lese ich in euren Augen nur noch die neidvolle Frage, ob ich nicht bereit sei, wenigstens eine, eine ganz kleine von meinen vielen Reliquien zu verkaufen. Da muss ich traurig den Kopf schütteln. So gern ich es täte, ich darf das leider nicht. Reliquienhandel ist streng verboten.

Und das seit ältesten Tagen. Kaiser Theodosius war, wie ihr alle wisst, sehr fromm, allerdings auch sehr humorlos. Humorlose Leute sind daran zu erkennen, dass sie sich über Reliquien ärgern. Über den Reliquienrummel, den Kaiserinmutter Helena im Byzantinischen Reich ausgelöst hatte, war Theodosius so wütend, dass er jeglichen Handel mit Märtyrergebeinen am heutigen Tag, am 26. Februar des Jahres 386, streng verbot. Kaiser Theodosius hat traurige Berühmtheit dafür erlangt, dass sich kein Untertan je an seine Verbote gehalten hat. So wie sich heute leider niemand an die Verbote des Heiligen Vaters in Rom hält. Denn auch das heutige Kirchenrecht verbietet den Reliquienhandel drakonisch. Wörtlich heisst es in Kanon 1190: „Es ist absolut verboten, heilige Reliquien zu verkaufen.“ Scharf hat der Vatikan protestiert, als im Jahr 2007 ein Splitter vom Heiligen Kreuz bei Ebay versteigert werden sollte.

Jetzt möchtet ihr sicher alle wissen, wie ich denn selber zu so vielen Reliquien gekommen sei. Auf die einfachste Weise der Welt: Ich habe sie gekauft. Und was das Schönste daran ist: Ich durfte sie kaufen. So nämlich will es das Kirchenrecht: Ein Gläubiger darf eine Reliquie kaufen, wenn er sie einem Ungläubigen abkauft - damit sie in gute Hände gelange. Und da die Antiquitätenhändler am Kölner Römerturm, nach meiner Einschätzung, alles Ungläubige sind, durfte ich ihnen eine Reliquie nach der andern guten Gewissens abkaufen. Selber verkaufen aber darf ich sie nicht. Wenn ein Katholik seine Reliquien nicht mehr will, muss er sie der Kirche schenken. So will es das Kanonische Recht. So steht es, ob´s euch gefällt oder nicht, in meinem Testament: Sollte ich eines Tages, so alt und lebenssatt wie Kaiserinmutter Helena, das Zeitliche segnen, so vermache ich alle meine kostbaren Reliquien, nicht etwa euch, nein, meine ungläubigen Hörer, euch gewiss nicht, sondern ihm allein, meinem hochverehrten Oberhirten Rainer Maria Kardinal Woelki, dem grössten, der je den Stuhl der Kölner Erzbischöfe besass.

Anmerkung: Ich schreibe und spreche selbst meine Zeitzeichen seit 48 Jahren. Manche älteren Zeitzeichen sind in Büchern wie „Napoleon in der Badewanne“, „Warum waren die Mönche so dick?“, „Wie der Erzbischof von Köln heiraten musste“ oder „Zanderfilets“ (unter demselben Titel zwei verschiedene Auswahlen in zwei verschiedenen Verlagen!) gedruckt nachlesbar. Siehe unter „Die Bücher“. Neuere Zeitzeichen können von der Webseite des WDR als Podcast heruntergeladen werden. Viele Sendungen sind auch in der Suchfunktion des WDR unter „Hans Conrad Zander“ auffindbar.