Der letzte glückliche Bischof

„Nun haben sie ihn doch nicht gekreuzigt“, schreibt Georg Bungter zu meinem Blog über Kardinal Woelki, „aber ob er jetzt glücklich ist?“

 

Ich habe das Glück, darauf eine klare Antwort geben zu können: Nein, glücklich ist er nicht und wird es bestimmt nicht mehr. Das liegt  nicht an ihm, auch nicht an den offenbar unlösbaren Sexualproblemen in seinem Erzbistum (alle Sexualprobleme sind unlösbar). Es liegt daran, dass es im Jahr 2021 einen glücklichen Bischof nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.

 

Gnade der frühen Geburt:  Siebzig Jahre ist es her, seit ich dem letzten glücklichen Bischof der katholischen Kirche noch persönlich begegnen durfte. Das war Franziskus von Streng, Bischof von Basel und Lugano mit Sitz in Solothurn. Da ich ein Bub von dreizehn Jahren war und meinen Spass daran fand, in seinen Garten zu klettern, bin ich ihm oft begegnet. Gescholten hat er mich nie. Franziskus von Streng strahlte all das aus, was man in den fünfziger Jahren von einem Bischof erwarten durfte: Würde, Väterlichkeit, Güte. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, was sich meinem kindlichen Gemüt unauslöschlich einprägen sollte. Wie er zwischen Buchshecken und Rosenspalieren über leise knirschenden Kies einhergeschritten kam, strahlte der ganze Bischof von Basel vor Glück. Woran das lag?

 

Es lag an den Postkarten. Wohl waren Postkarten zu Beginn der fünfziger Jahre im Leben der meisten Menschen wichtiger als heute. Im Tageslauf des Bischofs von Basel aber waren sie von überwältigender Bedeutung.

 

Wenn Franziskus von Streng morgens die Messe gelesen und ein paar Geschäfte mit seinem Sekretär besprochen hatte, zog er sich allein in sein Arbeitszimmer zurück. Jede Störung war dann verboten. Vor ihm, auf dem leeren Schreibtisch, lag nichts als ein kleiner Stapel vorfrankierter Postkarten. Bedächtig ergriff der Bischof die oberste Postkarte. Überlegte lange. Überlegte erneut. Dann schrieb er einen einzigen Satz. Zum Beispiel: „Ich versetze Sie von Kleinhüningen nach Welschenrohr. + Franziskus von Streng.“ Oder: „Ich versetze Sie von Welschenrohr nach Kleinhüningen. + Franziskus von Streng“. Und so noch drei, vier andere Versetzungen. Alle per Postkarte. Dann war es auch schon elf. Das Brevier andächtig in der Hand, wandelte Bischof von Streng hinab in seinen Rosengarten. Er strahlte vor Glück.

 

Gewiss ist es im Bistum Basel heute nicht ganz so schlimm wie im Vatikan, wo sich der Beamtenapparat seit dem Konzil verzehnfacht hat. Aber es ist fast so schlimm. „Dialogstrukturen“ nennt man das im Solothurner Klerus. Keine Beförderung, keine Degradierung, der nicht ein endlos tümpelnder Dialog in den unentwirrbar verkletteten „Dialogstrukturen“ des Bistums vorausginge. Bis zur völligen Blockade.

 

„Dialogstrukturen“ im Erzbistum Köln zu verhindern, war eines der Hauptanliegen von Woelkis (bekanntermassen bösem) Vorgänger Joachim Meisner. Das ist ihm scheinbar gelungen. Dennoch war Joachim Meisner ein zutiefst unglücklicher Mensch. Denn es gibt etwas, was noch schlimmer ist als schweizerische Dialogstrukturen. Das sind deutsche Konferenzen. Nicht verhindern konnte selbst ein Meisner die schier endlose Multiplikation von Konferenzen, in denen sich die zahlreichen „Dikasterien“ der Kölner Kurie gegenseitig schlimmer noch blockieren als Dialogstrukturen.

Einmal, als Papst Johannes Paul II in finanziellen Nöten war, habe ich Kardinal Meisner gefragt, warum er dem Papst nicht unter die Arme greife. Seine Antwort: „Ich kann nicht. Sie machen sich keinen Begriff, wie schwerfällig mein riesiger Haushalt ist. Jeder Versuch, da etwas zu verändern, muss jahrelang durch unzählige Konferenzen.“ Und dann? „Dann ist nichts mehr von dem übrig, was ich wollte.“

 

Zu den unveräusserlichen Rechten jedes Menschen gehört jedoch seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das Recht auf Glück. Glücklich wird ein Mensch, wenn er etwas bewirkt. Glücklich wird auch ein Bischof, wenn er etwas bewegt. Franziskus von Streng war noch ein Bischof, der etwas bewirken konnte. Grosses hat er bewirkt mit geringstem Aufwand. Per Postkarte hat er sein Bistum souverän regiert.

 

So ist er mir, dem Dreizehnjährigen, in seinem Garten in Solothurn zwischen Buchsbäumen und Rosen unvergesslich begegnet. O Gnade aller Gnaden, Gnade der frühen Geburt! Welches Glück, dass ich ihn noch mit eigenen Augen sehen durfte: den letzten glücklichen Bischof der katholischen Kirche!

Kreuziget ihn nicht!

Hosanna! Hosanna dir Rainer Maria Kardinal Woelki! Hosanna dir in Berlin. Hosanna dir in Köln! 

Was hat Woelki nicht alles getan, um als Erzbischof von Berlin unter den deutschen Bischöfen die Pole Position kirchlicher Fortschrittlichkeit zu besetzen? Hat er nicht die offizielle Bischofs-Residenz an der Sankt-Hedwigs-Kathedrale verschmäht und im Arbeiterviertel Wedding eine ärmliche Etagenwohnung bezogen? Hat er nicht die Lesben und Schwulen zum offenen Gespräch eingeladen? Hat er nicht endlich damit begonnen, die Sankt-Hedwigs-Kathedrale konzilskonform umzuformatieren? Hat er nicht soviele Berlinerinnen als möglich in so hohe katholische Positionen als möglich berufen? Hat er nicht für sich selbst keinen „Geheimsekretär“ mehr bestellt, sondern eine echte Berlinerin als ganz moderne „Büroleiterin“? Hosanna dir in Berlin!

Es schwappte das Hosanna aus Berlin über nach Köln. Kam auch in Köln eine armselige Arbeiterwohnung wie in Wedding nicht in Frage, so scheute Woelki doch keine Kosten, um Meisners feudale Amtswohnung umzubauen zu einem viel kleineren, bescheideneren und ganz modernen Apartment. In eben jenem Köln, wo er selber noch als Meisners Geheimsekretär hautnah erlebt hatte, was überholte Zustände sind, kam er jetzt aus Berlin an mit seiner weltoffenen, fortschrittlichen Berlinerin als Büroleiterin.

Und durch alle Medien, die kleinen bescheidenen katholischen Medien und die grossen staatstragenden Qualitätsmedien ging ein einziges Wort: Rainer Maria Woelki der „Hoffungsträger“. Hosanna!

Hosanna dem Hoffnungsträger sogar im revolutionärsten aller revolutionären katholischen Bethäuser Kölns, in der Karl-Rahner-Akademie in der Jabachstrasse. Mir und gewiss manchem ist, als stünde noch immer vorn auf dem Podium Dorothee Sölle und rufe dazu auf, nur noch „atheistisch an Gott zu glauben“. Doch eben da, wo die Protestantin Dorothee Sölle zur Revolution in der katholischen Kirche aufrief, stand jetzt, vor demselben Publikum postkonziliar ergrauter Kölner Katholik*innen, Rainer Maria der Hoffnungsträger, der neue Kardinal Woelki. Assistiert zur Linken von Pfarrer Franz Meurer, dem katholischen Sozialgewissen Kölns, zur Rechten vom Papst der politisch korrekten Geschichte der Domstadt, Martin Stankowski. Unbeschreiblich die Rührung, als der neue Kardinal die schönsten Geschichten aus seiner frommen Kindheit in der Kölner Bruderklaus-Siedlung zum besten gab. Und aus allen linkskatholischen Herzen ein einziges, tiefempfundenes Hosanna! Brauchen wir noch die Revolution von Dorothee Sölle? Nein. In der Karl-Rahner-Akademie, ja auch da, war Woelki  der Hoffnungsträger angekommen. Hosanna!

Hosanna im Domradio, wenn der neue Erzbischof die neue Geschwisterliebe zu unseren muslimischen Schwestern und Brüdern predigte: „Ist nicht auch unsere Religion aus dem Osten gekommen?“ Kam nicht er selber zurück aus dem Osten, aus jenen Gefilden Deutschlands, die Konrad Adenauer der östlichen Tiefebene zurechnete? Rainer Maria Woelki,  der Hoffnungsträger aus der Hauptstadt an der Spree!

Hosanna sogar weit über Köln hinaus. Hosanna bis in in die Hamburger Stern-Redaktion. Wo eben noch Henri Nannen altbackenen, längst überholten Antiklerikalismus illustriert unters Volk gebracht hatte, waren sich jetzt alle jungen und fortschrittlichen Redakteure einig: diesen Kölner Kardinal, diesen ganz neuen, weltoffenen, fortschrittlichen Hoffnungsträger galt es als Kolumnisten für Stern-online zu gewinnen. Hosanna!

Das war anno Domini 2014. Jetzt sind wir im Jahr des Herrn 2021. Und hat es auch ein bisschen länger gedauert als damals in Jerusalem, so ist es doch eine metanoia, eine Umkehr der Herzen von biblischem Kaliber. Durchs ganze Erzbistum tönt ein ganz anderer Ruf: Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!

Weit über Köln hinaus tönt es so. Durch ganz Deutschland tönt es so bis zurück nach Berlin. Dem einstigen Berliner Erzbischof, meldet der Hauptstadt die „Berliner Zeitung“, fliege jetzt sein ganzes neues Erzbistum am Rhein „um die Ohren“, die Kölner Katholiken seien alle hoch„auf den Barrikaden“, Woelki selbst stehe „kurz vor dem Rauswurf“. Klare Berliner Schnauze. Biblische Sprache allerdings kann noch klarer sein: 

Kreuziget ihn!

Dabei ist die „Berliner Zeitung“ nur die allerletzte, die gemerkt hat, was am Dom ze Kölle los ist. Wochen vorher schon haben es „Bild“ und „Kölner Stadtanzeiger“, „Christ und Welt“ vereint mit „Zeit online“, der Spiegel und die Süddeutsche sowieso, ja selbst die „Frankfurter Allgemeine“ der ganzen Nation verkündet:

Weg mit Woelki! Kreuziget ihn!

Und das Kölner Kirchenvolk, einst so lammfromm, hat bis in den Mai sämtliche Termine für den Kirchenaustritt im voraus ausgebucht. Für spätere Termine ist glaubhaft zu hören, sei im Kölner Amtsgericht der Server zusammengebrochen.

Vor Jahren undenkbar: Der Chef  der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, greift seinen Mitbrucher Woelki persönlich an und nennt, was Woelki tut, „ein Desaster“. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx spricht von dem „großen Schaden für die katholische Kirche“, den Woelki angerichtet habe, und nennt ihn „verheerend für uns alle“. Der Präsident des Zentralkomitees der Katholiken, Thomas Sternberg, bezeichnete Woelkis Verhalten als »katastrophal«. Es fehlt noch Jochen Ott, der SPD-Fraktionsvize im Düsseldorfer Landtag. Den drängt sein christliches Gewissen, in die katholische Kirche politisch einzugreifen:. „Bei aller gebotenen Trennung von Kirche und Staat – hier geht es nicht um seelsorgerische oder kirchenrechtliche Fragestellungen, sondern schlichtweg um Verbrechen.“

Und die Treuesten der Treuen? Was ist eigentlich mit Manfred Lütz? Furchtlos, wortgewaltig pflegte er sich vor jeden Kirchenfürsten zu stellen, ob Papst, ob Erzbischof. Jetzt hat er sich unauffindbar im  Vorgebirge verkrochen. Willibert Pauels, „Diakon und Büttenclown“, leidet dagegen mit dem Kardinal: „Das hält doch keine Sau aus.“ An den Busen seines geliebten Kardinals schmiegt er sich nächstenliebend und rät ihm zum „Rücktritt aus Liebe“. Pauels´ Bruder in der Kölner Narrenzunft, Jürgen Becker, schlägt als würdige Nachfolgerin für den unwürdigen Woelki die evangelische Ex-Bischöfin von Hannover, Margot Kässmann vor: „Die hat Berufserfahrung, die hat Würde, das richtige Alter, die ist fromm, und die kennt sich mit Martin Luther aus.“ Die Kässmann sei, wie einst der Reformator, fähig „dem sündigen Klerus die Stirn zu bieten.“

Bevor Margot Kässmann Kölns rote Ampenl überfährt, wollen wir nun doch in Ruhe überlegen, was da zwischen „Hosanna!“ und „Kreuziget ihn!“ in Köln überhaupt passiert ist. Alles Lebendige verändert sich. Mehr als alles andere Lebendige hat sich in diesen sieben Jahren die erzbischöfliche Kurie in Köln verändert.  Da bekämpften sich früher, ganz traditionell, Rechte und Linke. Jetzt ist das nicht mehr so. Jetzt sind die Kurial*innen alle mal ein bisschen rechts und links und fast immer beides. Der neue Kardinal selbst ist so richtig hineingewachsen in diese mutierte Kurie.  Er ist nicht mehr der linke Hoffnungsträger, den die Berliner*innen so geliebt haben. Er ist jetzt, wie sein ganzes Kölner Umfeld, mal links, mal rechts, links und rechts zugleich.

Was hat ihn denn geritten, weit zurück in die Vergangenheit ein externes Gutachten über die kurialen Verantwortlichkeiten bei sexuellen Übergriffen in seinem Klerus in Auftrag zu geben? Jeder vernünftige Christ weiss doch, dass es stinkt, wenn man in altem Dreck wühlt. Kaum einer, der nicht froh gewesen wäre, hätte Woelki einen Strich unter die unerfreuliche Vergangenheit gezogen und sich darauf beschränkt, ab sofort seinen Klerikern Keuschheit zu verordnen, bei Unkeuschheit aber fortan staatliche Strafe und öffentliche Ächtung anzudrohen.

Statt dessen wollte er noch einmal unter den deutschen Bischöfen die linke Pole Position besetzen, jetzt mit seiner idée fixe eines juristischen Gutachtens bis fast  zurück zum Weltkrieg. Und wundert sich über den ungeheuren Gestank, der schon jetzt aus seinem Erzbistum aufsteigt. Zu gleicher Zeit kam ihm in den Sinn, dass er doch einmal Meisners Geheimsekretär gewesen war. Und sicherte sich in den Auseinandersetzungen auf der „Zukunftskonferenz Synodaler Weg“ jene rechte dogmatische Pole Position, die doch kaum ein anderer ihm neidet. Woelki links, Woelki rechts, Woelki beides durcheinander wie seine ganze Kölner Kurie. Wo es doch noch immer ein paar alte Katholikinnen gibt, die eindeutig linke oder eindeutig rechte Positionen besser fänden.

Ist das Jahrhundert-Pogrom moralischer Empörung, das jetzt an dem Kölner Erzbischof von allen Seiten hochbrandet, damit erklärt? Mitnichten. Dieses Pogrom gegen einen einzigen Mann ist derart irrational, dass es eines Blicks in irrationalste Tiefen frommer Seelen bedarf, um das Unverständliche zu verstehen. Der Wahrheit am nächsten kam bisher wohl, ganz unbewusst, Lisa Kötter, die der Deutschlandfunk uns als Mitgründerin der revolutionären katholischen Frauenbewegung Maria 2.0 empfiehlt. Ahnungsvoll sprach sie ins Mikrofon, dass die Vorgänge um Kardinal Woelki das entblössten „was, sagen wir mal, das hässliche Gesicht der Kirche ist“.

Dieses Gesicht!

Das Gesicht von Kardinal Woelki! Keiner spricht es aus, jeder denkt es: Der Kölner Erzbischof hat ein Gesicht, das alle unsympathisch finden. Wer ein solches Gesicht hat, den prügeln in deutschen Grundschulen alle zusammen in die Ecke. Dass einer ein solches Gesicht hat, ist allerdings, um es mit Brecht zu sagen, „in der Religionsgeschichte nicht unbekannt“.

Wie hat Jesus Christus ausgesehen? Kein Wort darüber erfahren wir von den vier Evangelisten. Nur einer, der palästinensische Arzt Kelsos, wagt ein unmissverständliches Wort: Jesus Christus, schreibt er, habe „unansehnlich“ asgesehen. Unansehnlich wie Kardinal Woelki. Kelsos war Heide. Aber auch der Christ Origenes, der „Contra Celsum“ geschrieben hat, widerspricht ihm in diesem Punkte nicht. Denn der  heidnische Vorwurf des Kelsos entspricht der biblischen Prophezeiung bei Isaias: „Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voll Schmerzen und Krankheit. So verachtet war er, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. Darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ Isaias 53, 2,3.

Was fehlt jetzt eigentlich noch in dem erbarmungslosen Ansturm  aller gegen Kardinal Woelki? Uns fehlt nur noch der historische Overkill durch Prof. Dr. Martin Kaufhold, „Epochenwandel-Experte“ der „University of Augsburg“: "Wenn es so weitergeht, würde ich der katholischen Kirche als Institution in Deutschland in dieser Form noch etwa 20 Jahre geben.“ Wenn Woelki aber bleibe, dann werde es noch schneller zu Ende gehen.

Eines scheint er nicht zu wissen, der Epochenwandel-Prophet der University of Augsburg: Religionen bestehen nicht nur aus Seelen, sondern auch aus Dingen: Büchern, Bildern, vor allem Gebäuden. Die Seelen sind vielleicht in zwanzig Jahren alle weg. Aber was wird aus den Immobilien? Die kann man nicht alle einfach so abreissen. Dem ist nicht nur der Denkmalschutz vor, sondern auch die Telekom. Kaum ein Kirchtum im Erzbistum Köln, der nicht langfristig vollgestopft ist mit modernster Übermittlungs-Elektronik. Wer alle Kirchtürme Deutschlands abreissen wollte, der würde alle Smartphones von Deutschland stillegen. Und so die ganze fortschrittliche Jugend gegen sich aufbringen.Wollt ihr das?

Länger noch als zwanzig Jahre wird uns die Frage aller Fragen beschäftigen: Wer bekommt jetzt, nach Woelki, nach dem epochenwandelnden Untergang der katholischen Kirche, den Kölner Dom? Bekommen ihn unsere Brüder und Schwestern die Kölner Sunnit*innen oder unsere Schwestern und Brüder die Kölner Schiit*innen? Ich bin für die Schiiten. Irgendwie sind die doch auch katholisch. Die lieben Bilder, Schreine, Heilige. Die Schiiten jedenfalls werden den Heiligen Drei Königen im Kölner Dom nichts tun.

Oder sind euch unsere Schwestern und Brüder die Sunnit*innen lieber? Macht meinetwegen im „Epochenwandel“ der nächsten zwanzig Jahren, was ihr wollt mit dem Kölner Dom. Aber den Rainer Maria Woelki, den lasst mir endlich in Frieden. Er hat kein Gesicht, das euch passt. Trotzdem ist er unschuldig an fast allem, was eure Seelen in ihrer frommen Fortschrittlichkeit bedrückt. So sehr es euch alle gelüstet:

Kreuziget ihn nicht!

Keine Hoffnung, in die Hölle zu kommen.

 

Dass nichts spannender ist als das Erlebnis der Hölle -  dies ist vielleicht die einzige Erfahrung, über die, unter Christen, ökumenisches Einverständnis herrscht. So hat es John Milton, der bedeutendste protestantische Dichter, dargestellt in „Paradise Lost“. Ihre grandiose Dramatik gewinnt ja Miltons Dichtung nur dadurch, dass sie eben nicht im Paradies anhebt, sondern in tiefster Hölle mit dem Aufstand Satans. Deutlich spürbar ist bei Milton sogar so etwas wie heimliche Bewunderung, Achtung jedenfalls für den Engel, der den Mut hat, zu rebellieren gegen Gott. Und ähnlich, lang zuvor, in Dantes „Göttlicher Komödie“. Dass der erste Band der Trilogie, das „Inferno“, den katholischen Dichter weit stärker inspiriert hat als danach „Fegefeuer“ und „Paradies“, dies scheinen  vom Hörensagen sogar jene zu wissen, die selber die „Göttliche Komödie“ nicht gelesen haben.

Leider hat sich etwas anderes in letzter Zeit nicht mehr so allgemein herumgesprochen: Noch bevor er abstieg zu den Verdammten, hat Dante etwas erlebt, was an Beklemmung die Hölle selber bei weitem übertrifft.

 

Ganz oben war das, noch am Höllentor. „In sternenloser Nacht“ sah dort der Dichter Menschen ohne Zahl jammervoll im Kreise treiben „wie Sand gejagt in einem Wirbelsturme“. Mit wilden Schmerzenslauten, bald gellend, bald heiser, betteln sie verzweifelt um Einlass. Doch der Teufel lässt sie in die Hölle nicht herein.

 

Dies seien Seelen, fährt Dante fort, „die nie gelebt haben“. Jetzt hätten diese Unglückseligsten von allen nicht einmal mehr Hoffnung auf Einlass in die Hölle.

 

Was aber sind das, „Menschen, die nie gelebt haben“? Das sind „die lauen Seelen“. Menschen, die nie für etwas gekämpft haben, die sich nie für etwas eingesetzt habe, die weder für das Gute gekämpft, noch für das Böse rebelliert haben. In allem immerzu darauf bedacht, unparteiisch zu bleiben, haben sie nie in ihrem Leben eine Entscheidung gefällt. Jetzt, im Jenseits, irren die „lauen Seelen“ ewig heimatlos herum. „Der Himmel“, sagt Dante, „will sich nicht mit ihnen schänden.“ Doch auch dem Teufel graust´s vor solchen Menschen so, dass er vor ihnen das Höllentor verschliesst. Wohl steht über diesem Tor als letzte Warnung geschrieben: „Hier ist der Eingang zum verlorenen Volke.“ Und doch kreisen die lauen Seelen ruhelos um eben dieses Tor, ewig getrieben von dem ewig unerfüllbaren Wunsch: endlich doch Partei zu sein, endlich doch zu jemandem zu gehören, und sei es zu den Verlorenen in der Hölle.

 

So stellt es Dante dar im dritten Gesang des Inferno. Warum mir das einfällt? Weil ich gerade lese, dass 85% unserer Zeitgenossen nicht die geringste Angst haben, jemals in die Hölle zu kommen. Diese Sorglosigkeit ist zweifellos berechtigt. Dennoch ist sie trügerisch. So wie die meisten von uns leben, laufen wir im Gegenteil Gefahr, dereinst „wie Sand vom Wirbelsturm getrieben“ in alle Ewigkeit zu kreisen vor verschlossenem Höllentor.

 

 

Buß-Predigt für Deutschland

 

 

Es war nicht etwa nur so ein modernes Pandemielein. Es war die Pest. Und nicht nur irgendeine Pest. Es war die grosse Justinianische Pest. Schon hatte sie ein Drittel der Einwohner Italiens dahingerafft. Da, im Jahr 590, brach sie erneut aus. Mitten in Rom. Was konnten die Römer*innen in ihrer Verzweiflung noch tun? Nur eines: nicht etwa in einem streng geheimen „Konsistorium“, sondern „per acclamationem populi“, durch Zuruf des ganzen Volkes, wählten sie als neuen Papst einen begnadet gnadenlosen Buß-Prediger: den Mönch Gregor. Gregor den Grossen.

 

Sieben Buß-Wallfahrten ordnete er als erstes an. Aus sieben Himmelsrichtungen strömten sie alle vor Santa Maria Maggiore zusammen. Als dort vor allem Volk der neue Papst die Arme zum Himmel hob, die Sünden Roms bekennend und um Vergebung bittend, da, mit einem Mal sahen es die Römer*innen alle: Drüben, über dem Mausoleum Kaiser Hadrians erschien gewaltig der Engel der göttlichen Rache, der Erzengel Michael, und er steckte, bewegt von der Reue des ganzen Volkes, das eben noch hocherhobene Schwert der göttlichen Rache zurück in die Scheide. Die erlösten Römer*innen aber, aus tiefer Dankbarkeit, nannten  Hadrians Mausoleum  fortan „die Engelsburg“.

 

So gnädig konnte er sein, der Erzengel Michael. Gnädiger noch zu uns. Er ist ja nicht nur der Engel der göttlichen Rache, der Schutzengel der Schlachtfelder und der Friedhöfe. Er ist auch der Engel der Deutschen. Nicht die Pest hat er uns anno 2020 geschickt, sondern als erstes nur ein vergleichsweise harmloses Pandemielein. Als erste Strafe für jene Todsünde der hemmungslosen Globalisierung, gegen die unsere grosse Greta zu Recht nirgendwo so laut Anklage erhoben hat wie in Deutschland.

 

Wo aber sind anno 2020 unsere Gebete? Wo unsere Buß-Wallfahrten? Wo ist ein Papst, der die Sünden Roms bekennend die Arme hoch zum Himmel reckt? Statt Bußwallfahrten und Gebeten nichts als eitles  Geschwätz. „Tutti-fratelli-Geschwätz aus Rom, Geschwätz in der ARD, Geschwätz im ZDF, Geschwätz in der FAZ, Geschwätz in der „Süddeutschen“. Wissenschaftliches Covid19-Geschwätz, gewiss, meistens jedenfalls. Aber Geschwätz doch, das längst keiner mehr hören, keiner mehr lesen mag. Insgeheim fühlt es das ganze Volk: Wenn alles besser werden soll, muss zuerst mit dem Covid19-Geschwätz ein Ende sein. Was wir jetzt als erstes brauchen, ist keine Tutti-fratelli-Enzyklika, sondern das, was grosse Päpste einst bei schwersten Sünden verhängt haben: statt eines teilweisen Lockdowns ein totales „Buss-Schweigen“. Tiefe Wortlosigkeit als absoluten Wellenbrecher gegen die Seuche. Um es mit den Worten des Dichters zu sagen: „O komm, Gewalt der Stille!“

Im Schweigen erst werden wir einsehen, was uns die grosse Greta vergeblich zu predigen versucht hat: unsere Sünde. Unsere Umweltsünde. Frevlerisch ausgebeutet, vergiftet haben wir die globale Welt.  Und wenn ihr denn nicht glauben wollt, dass es der Erzengel Michael persönlich ist, der uns mit Corona züchtigt, so glaubt doch wenigstens,  dass es, ganz unpersönlich, eben diese von uns misshandelte Welt sei, die jetzt gegen uns Sünder mit Corona  global strafend zurückschlägt.

 

Reuevolles Schweigen zuerst. Und dann, wie einst zu Gregors des Grossen Zeit, Buß-Wallfahrten. Wir brauchen ja gar nicht weit zu laufen. Seit Kaiser Ottos Tagen ruhen ihre seligen Gebeine mitten unter uns. Im Aachener Dom ruht sie, die heilige Corona, die alte Schutzheilige der Deutschen gegen Seuchen. Wahrlich, ich sage euch: Wenn aus Berlin, aus Düsseldorf, aus München alle nach Aachen gepilgert kommen, unsere beiden Grössten, Angela Merkel und Rainer Maria Woelki, vorneweg, dann, ja dann wird hoch über dem uralten Kaiserdom, der Erzengel Michael aufs neue erscheinen. Gnädig wird er, der Schutzengel Deutschlands, das hocherhobene Schwert der göttlichen Rache zurückstecken in die himmlische Scheide. Und gross wird der nationale Lobpreis sein, wortreich gross der fromme Dank von ARD, ZDF und FAZ, von Angela Merkel und Kardinal Woelki, vor allen Dingen von ihm, von unserem allergrössten Meister der Buß-Predigt: von Heribert Prantl himself.

 

 

Warum hat mir nie eine Frau ein Liebesgedicht geschrieben?

 

 

So wie andere in einer Buchhandlung schmökern, so schmökere ich in meiner eigenen Bibliothek. Da sind so viele Bücher, die ich einmal gekauft, ungelesen auf ein Brett gestellt und dann vergessen habe. Heute bin ich auf eine Sammlung der hundert schönsten französischen Liebesgedichte gestossen: Schüchterne Liebesgedichte, leidenschaftliche Liebesgedichte, grausame Liebesgedichte, melancholische Liebesgedichte. Die Grossen der französischen Literatur, von François Villon über Molière bis zu Victor Hugo, alle haben sie Liebesgedichte geschrieben, so aber auch viele unbekannte, namenlose Verliebte. Ein Liebesgedicht schöner als das andere. So schön, dass es eine Weile gedauert hat, bis mir das Erschreckende auffiel: von hundert Liebesgedichten drücken nur drei die Liebe einer Frau zu einem Mann aus. 97 sind von Männern für Frauen geschrieben.

 

Dass wir in der deutschen Liebespoesie besser dran seien, hoffe ich, mag es aber nicht glauben. Von Goethes Friederike bis zu Heines Friederike sind es alles poetische Sehnsüchte männlicher Romantik um eine Frau. Gewiss feiert das schönste deutsche Liebesgedicht die Liebe einer Frau zu einem Mann. Das ist „Die Ballade von der Hanna Cash“. Doch wer hat diese weiblichen Gefühle empfunden und in Verse gefasst? Es ist ein Mann, und zwar ein inzwischen sehr alter weisser Mann: Bertolt Brecht. So machistisch ist er selber mit Frauen umgegangen, dass unsere cancel culture ihn jetzt von den Bühnen verbannen muss.

 

Es ist bei uns so erschreckend wie in Frankreich: Höchstens drei Prozent aller Liebesgedichte sind von einer Frau aus Liebe zu einem Mann verfasst. Woher das kommen mag? Das habe ich eine der besten Kennerinnen der französischen Poesie gefragt. Sie antwortete geniert: „Ein Bekenntnis der Liebe an einen Mann zu richten, das wäre doch lächerlich.“

 

Erasmus von Rotterdam hat es schon gewusst: Alle Liebe hat etwas mit dem Körper zu tun. Der männliche Körper ist aber anders als der weibliche. Gerade jenes Glied, in dem sich die männliche Liebeserregung ausdrückt, ist aber in seiner Erscheinung und vor allem in seiner Funktionsweise so komisch, dass man, schreibt Erasmus, „gar nicht drüber reden kann, ohne in Gelächter auszubrechen“. Kein Gegenstand jedenfalls für romantische Ergüsse.

 

Aber halt! Wissen wir nicht alle heute aus der Gendertheorie, was noch kein Erasmus wissen konnte: dass das Geschlecht eines Menschen kaum körperlich bestimmt ist, ungleich mehr aber sozio-kulturell. Da ist zumindest in der Liebesdichtung ein immenser sozio-kultureller Nachholbedarf an poetisch gefasster Liebe der Frau zum Mann. Gibt es nicht an deutschen Universitäten schon über hundert Professor*innen der Gender-Wissenschaft, in deutschen Behörden Tausende von Gleichstellungsbeauftragten? Sie alle sind aufgerufen, zur Förderung der Gleichstellung beider Geschlechter, ein Gedicht zu verfassen, das die innige Liebe einer Frau zu einem Mann ausdrückt, und dieses Gedicht ins Netz zu stellen unter dem Hashtag # Sah ein Ros ein Knäblein stehn.

 

TikTok oder Twitter - der Papst muss sich entscheiden.

Die Spätzinnen und die Spatzen pfeifen es vom Petersdom. Der Papst muss sich entscheiden. Und zwar ganz schnell: Entweder Twitter oder TikTok.

 Aus China ist das gekommen. Mit dem Corona-Virus. Genauer gesagt: mit der Quarantäne. Da hat in der ganzen Welt der Pornokonsum im Internet wüst zugenommen. Insbesondere Pornhub, die wüsteste von allen Webseiten, wäre vor Abermillionen Klicks fast zusammengebrochen. Aber nicht nur das Böse hat in der Corona-Quarantäne zugenommen, sondern auch das Gute.  Und wie es denn die alten weissen Männer waren, die sich die verordnete Langeweile auf Pornhub vertrieben, so sind es die jungen,  die fröhlichen Multikulti-Kinder, die in der Corona-Isolierung auf die entgegengesetzte Idee gekommen sind: sich nicht mehr länger auf Twitter zu langweilen, schon gar nicht auf Pornhub, sondern das Virus auf TikTok lustig zu vertanzen. In kindlicher Leichtigkeit. In jugendlichem Übermut. Ein paar zuerst. Doch jetzt sind es schon zwei Milliarden TikTok-Kinder in aller Welt. Zwei Milliarden Kinder, das kann im Vatikan nicht unbemerkt bleiben, sind eine geistige Macht. Unerträglich geschmerzt hat es Donald Trump, als ein Schwarm von TikTok-Kindern ihm seinen Wahlkampf vermasselt hat.

 Wären es nur die Kinder, nur die Teenies, doch die Neue Zürcher Zeitung schlägt Alarm: Die Twinks der Generation Z, auch sie laufen schon von Twitter zu TikTok über. Was ist in sie gefahren, in die Grufties von der Generation Z? Auch sie, die alten Jungen, wollen wieder ganz jung werden. Ganz jung im Jungbrunnen der Generation TikTok.

 Das ist das Dilemma des Papstes. So wie er liebt keiner die jungen Menschen. Er ist der Star des Weltjugendtages. Im Sinne des 2. Vatikanischen Konzils ist er für alles Junge und Neue. Also nichts wie weg von Twitter, nichts wie hin zu TikTok? Warum fällt das Franziskus so schwer? Weil er es auf Twitter schön hat. Schöner als mancher andere. 43 Millionen Follower hat er auf Twitter, 15 Millionen auf englisch, 15 Millionen auf spanisch, auf deutsch leider Gottes nur eine halbe Million. Auf lateinisch dagegen stolze 856.000 Sequentes. Im Kölner Domradio habe ich das gehört. Aber weit über das Domradio hinaus war die Begeisterung der Alten gross, als Franziskus jüngst für die „creati cura“ („Umweltschutz“) twitterte: „Politica actio oportet humanae personae, communi bono et creati curae vere inserviat." 

 Ein Hit ist so etwas auf Twitter. Aber überlegt euch jetzt einmal, was für ein Flop das auf TikTok wäre. Kaum jemand verkündet ja irgendwelchen Tiefsinn auf TikTok. Tiefsinn, das ist für die alten Twens auf dem alten Twitter. TikTok dagegen verdankt seinen Erfolg bei den Kleinen seiner Anleitung zu kinderleichten Videos. Und was tun Kinder auf Videos? Am liebsten tanzen sie. Wie die kleinen Chinesen lachen und albern auch die kleinen Deutschen, die kleinen Amerikaner zum Ärger von Donald Trump, sie lachen alle auf TikTok herum. Kindlich verspielt sind diese TikTok-Videos. Wie Raffaels Engelchen, so kommen sie dahergetanzt,  die tanzenden Kinderlein auf TikTok.

 Die sixtinischen Engelchen? Wenn die tanzen können, kann das der Papst nicht auch? Kommt er nicht aus einem Land, wo besonders viel getanzt wird? Aber halt! Tango ist etwas anderes, viel Schwerblütigeres als das lustige Teenie-Gehopse auf TikTok. Tango ist für die allerältesten deutsche Grufties. Die fliegen jetzt schon wieder zum Dreitage-Tangokurs nach Buenos Aires. Kein Tiktok-Kindlein fliegt da mit.

 Liegt es wirklich an Corona, dass der Vatikan den nächsten Weltjugendtag in Lissabon auf 2023 verschieben musste? Liegt es nicht viel eher daran, dass es dem Heiligen Vater unendlich schwer fällt, sich von Twitter zu lösen und ja zu sagen zu TikTok? Aber Lissabon ist nicht mehr weit. Möge Papst Franziskus die Courage finden, sich für das Neue, für die Zukunft, für die jüngste Jugend zu entscheiden: für TikTok. Im Sinne seines Namenspatrons, des heiligen Franziskus von Assisi, der gewiss auch gegen Twitter und für TikTok wäre. Nicht umsonst nannten sie ihn  „Franziskus“ – „der kleine Franzose“. Haben doch die Teenies in Assisi alle von ihm geschwärmt: „Cantat, saltat gallice“ – „Er singt, er tanzt wie ein Franzose.“ Auch heute würden sie von ihm schwärmen, vielleicht nur ein bisschen anders: „Er singt, er tanzt auf TikTok wie ein kleiner Chinese.“

 Und wenn der Papst sich doch, quod Deus avertat, dafür entscheidet, weiter an der neuesten Jugend vorbeizutwittern? Die Folgen wage ich mir nicht vorzustellen. Wenn zwei Milliarden TikTok-Kinder, statt nach Lissabon zu fliegen, lieber daheimbleiben und dem Papst im Internet eine lange Nase tanzen, dann ist Franziskus auf dem nächsten Weltjugendtag mit Twitter, mit Donald Trump und mit mir allein.

 

Einsames Zwiegespräch mit der heiligen Corona im Dom zu Aachen

Heilige Corona!

Seit Kaiser Ottos frommen Tagen ruhen deine heiligen Gebeine hier im Aachener Dom. Eigens bin ich jetzt zu dir nach Aachen gepilgert. Um dich als Patronin anzurufen. Gegen die herrschende Pandemie.

(Heilige Corona:) Was ist eine Pandemie?

Heilige Corona, das ist nichts weiter als eine Seuche. Schon unter Kaiser Otto hast du dich ja als Patronin gegen zweierlei Übel bewährt: gegen Seuchen und gegen Mangel an Geld. Wie viele Priester, Mönche, Nonnen haben hier gekniet und dich um Hilfe gegen Mangel an Geld angerufen. Das rheinische Volk dagegen hat dich eher um Beistand gegen Seuchen angefleht. Liebevoll hat es dich „dat Corönschen“ genannt. Jetzt aber, stelle ich mit Verwunderung fest, bin ich der einzige, der vor dir kniet.

(Heilige Corona:) Wahrscheinlich leiden nicht einmal die Piusbrüder mehr an Mangel an Geld.

Heilige Corona! Das hat für einmal nichts mit Geld zu tun, sondern mit der neuesten Seuche. Dabei heisst sie doch Corona-Pandemie. Warum drängen sich die Beter nicht hier im Aachener Dom vor deinem Gebein? Liegt das vielleicht an den Hygiene-Vorschriften für Gotteshäuser, die Angela Merkel als oberste Gesetzgeberin der Religion erlassen hat: Mindestens zwei Meter Abstand von Beter zu Beter. Und vor allem kein Gesang.

(Heilige Corona:) Wer ist Angela Merkel?

Heilige Corona, das ist so eine, die sich für Kaiser Otto hält.

(Heilige Corona:) Ich bin Reichsbürgerin. Ich anerkenne nur Kaiser Otto selbst.

Heilige Corona! Ich will dir sagen, woran es liegt. Kein deutscher Priester kniet hier und bittet darum, dass Deutschland von der Seuche verschont bleibe.

(Heilige Corona:) Glaubt kein Priester mehr an mich?

Heilige Corona! Priester glauben nicht, sie lesen Messen.

(Heilige Corona:) Jedenfalls taten sie das zu Kaiser Ottos Zeiten.

Heilige Corona! Das tun sie immer noch. Aber leider ist Messelesen nicht mehr, was es einmal war. „Ich will hintreten zum Altare Gottes. Zum Gott, der meine Freude ist von Jugend auf.“ Mit diesem uralten, altbiblisch heiteren Spruch fing jede Messe zu Kaiser Ottos Zeit an. Jedesmal so. Jedesmal gleich. Diese immerzu gleiche Einleitung ist jetzt aber veraltet und wurde deshalb abgeschafft. Dafür hat der Priester die neue Aufgabe, jede Messe schöpferisch zu gestalten. Als „Eucharistiefeier“. Und pastoral einfühlsam zuzugehen auf die mündigen Laien, die nicht mehr vor ihm knien, sondern vor ihm stehen und ihr „Recht auf Eucharistie“ gebieterisch einfordern.

(Heilige Corona:) Das muss ja furchtbar sein.

Heilige Corona! Wie furchtbar es ist, zeigt ein Blick in die Statistik: Der ganz normale Priester liest in seinem Priesterleben etwa 20.000 Messen. Und es werden immer mehr Messen. Weil es immer weniger Priester werden. Die Mehrheit ist schon über sechzig, über siebzig. Und da rennt so ein hochbetagter Priester von einer Kirche, von einem Altar zum andern, jedesmal neu bemüht, schöpferisch und einfühlsam auf mündige Laien zuzugehen. 20.000 mal schöpferisch in einem einzigen Priesterleben!

(Sancta Corona:) insanum est. absurdum est. eheu!

In der Tat eheu, heilige Corona! Eheu, es ist erschöpfend! Eheu, es macht krank! Vielleicht verstehst du jetzt, warum der Klerus nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien und in Frankreich sich überhaupt nicht gewehrt hat gegen das staatliche Verbot von Messen während der Corona-Seuche. Dabei gibt doch das Kirchenrecht keinem Staat, erst recht keiner Angela Merkel die Befugnis, Gottesdienste zu regeln, sie gar zu verbieten.Trotzdem hat die Priesterschaft überall die Messen schleunigst storniert, die Altäre abgeräumt, die Kirchtüren fest verriegelt. In ungewohnt servilem, geradezu vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Staat.

(Heilige Corona:) So gehorsam war die Priesterschaft nicht, wenn Kaiser Otto etwas befahl.

Heilige Corona! Es ist ganz einfach: Einmal ein paar Wochen lang keine Messen mehr lesen zu dürfen, für den heutigen erschöpften, zermürbten, überalterten Klerus ist das kein Martyrium. Es ist Erlösung. Eine solche längere Auszeit haben alle seit Jahren heimlich herbeigesehnt.

(Heilige Corona:) Vielleicht sogar herbeigebetet. Wer weiss, vielleicht kommt nächstens die grosse Dankeswallfahrt zu meinem Schrein hier im Aachener Dom. Mit Kardinal Woelki vorneweg.

Corönschen klein,

Das muss nicht sein!

Vor deinem holden Schrein

Knie ich lieber ganz allein!