Warum hat mir nie eine Frau ein Liebesgedicht geschrieben?

 

 

So wie andere in einer Buchhandlung schmökern, so schmökere ich in meiner eigenen Bibliothek. Da sind so viele Bücher, die ich einmal gekauft, ungelesen auf ein Brett gestellt und dann vergessen habe. Heute bin ich auf eine Sammlung der hundert schönsten französischen Liebesgedichte gestossen: Schüchterne Liebesgedichte, leidenschaftliche Liebesgedichte, grausame Liebesgedichte, melancholische Liebesgedichte. Die Grossen der französischen Literatur, von François Villon über Molière bis zu Victor Hugo, alle haben sie Liebesgedichte geschrieben, so aber auch viele unbekannte, namenlose Verliebte. Ein Liebesgedicht schöner als das andere. So schön, dass es eine Weile gedauert hat, bis mir das Erschreckende auffiel: von hundert Liebesgedichten drücken nur drei die Liebe einer Frau zu einem Mann aus. 97 sind von Männern für Frauen geschrieben.

 

Dass wir in der deutschen Liebespoesie besser dran seien, hoffe ich, mag es aber nicht glauben. Von Goethes Friederike bis zu Heines Friederike sind es alles poetische Sehnsüchte männlicher Romantik um eine Frau. Gewiss feiert das schönste deutsche Liebesgedicht die Liebe einer Frau zu einem Mann. Das ist „Die Ballade von der Hanna Cash“. Doch wer hat diese weiblichen Gefühle empfunden und in Verse gefasst? Es ist ein Mann, und zwar ein inzwischen sehr alter weisser Mann: Bertolt Brecht. So machistisch ist er selber mit Frauen umgegangen, dass unsere cancel culture ihn jetzt von den Bühnen verbannen muss.

 

Es ist bei uns so erschreckend wie in Frankreich: Höchstens drei Prozent aller Liebesgedichte sind von einer Frau aus Liebe zu einem Mann verfasst. Woher das kommen mag? Das habe ich eine der besten Kennerinnen der französischen Poesie gefragt. Sie antwortete geniert: „Ein Bekenntnis der Liebe an einen Mann zu richten, das wäre doch lächerlich.“

 

Erasmus von Rotterdam hat es schon gewusst: Alle Liebe hat etwas mit dem Körper zu tun. Der männliche Körper ist aber anders als der weibliche. Gerade jenes Glied, in dem sich die männliche Liebeserregung ausdrückt, ist aber in seiner Erscheinung und vor allem in seiner Funktionsweise so komisch, dass man, schreibt Erasmus, „gar nicht drüber reden kann, ohne in Gelächter auszubrechen“. Kein Gegenstand jedenfalls für romantische Ergüsse.

 

Aber halt! Wissen wir nicht alle heute aus der Gendertheorie, was noch kein Erasmus wissen konnte: dass das Geschlecht eines Menschen kaum körperlich bestimmt ist, ungleich mehr aber sozio-kulturell. Da ist zumindest in der Liebesdichtung ein immenser sozio-kultureller Nachholbedarf an poetisch gefasster Liebe der Frau zum Mann. Gibt es nicht an deutschen Universitäten schon über hundert Professor*innen der Gender-Wissenschaft, in deutschen Behörden Tausende von Gleichstellungsbeauftragten? Sie alle sind aufgerufen, zur Förderung der Gleichstellung beider Geschlechter, ein Gedicht zu verfassen, das die innige Liebe einer Frau zu einem Mann ausdrückt, und dieses Gedicht ins Netz zu stellen unter dem Hashtag # Sah ein Ros ein Knäblein stehn.