Ein Knabe und ein Widerstandskämpfer

Viel Gutes haben Söhne über ihre Väter meist nicht zu berichten. So auch nicht jener deutsche Verwandte über seinen Vater, meinen Onkel. Doch jüngst, bei einem Treffen in Schaffhausen, schränkte er sein schlechtes Urteil ein: „Wie der im letzten Kriegsjahr in unserer kleinen schwäbischen Stadt den Widerstand gegen die Nazis aufgebaut hat, das muss ich ihm hoch anrechnen.“

Er wollte weiterreden, doch ich hatte mich abgewandt. So überwältigt war ich von meiner eigenen Erinnerung. Nicht an 1944 oder 1945, sondern an 1948.

 Nach der langen Trennung durch die Kriegsjahre hatte meine Mutter ihre Verwandten in Süddeutschland wieder besuchen wollen. Doch die französischen Besatzungsbehörden verweigerten der Schweizerin das Visum. Mir dagegen, dem kleinen elfjährigen Buben, erteilten sie es. Es wurde das grosse Abenteuer meiner an Abenteuern sonst nicht sehr reichen schweizerischen Kindheit: eine Fahrt ganz allein hinaus ins besiegte, durchs kaputte Deutschland.

 Menschenleer der Bahnhof in Lindau. Doch brauchte ich niemanden nach meinem Zug zu fragen. Einsam stand ein einziges Züglein da, vorn ein Rangierlokomotive, dahinter, aus besseren Zeiten, ein paar verlotterte Waggons. Ich stieg ein. So langsam ging es voran, dass ich Lust hatte, abzuspringen und neben dem Zug herzurennen. Noch dreimal musste ich umsteigen. Jedesmal eine andere Rangierlok vor ein paar anderen verlotterten Waggons. Links vom Gleis ein graues, abgewirtschaftetes Dorf nach dem andern, rechts vom Gleis die öden Stümpfe eines weiten Waldes, den die Sieger abgeholzt und abtransportiert hatten. Links und rechts vom Gleis alles so heruntergekommen, dass mir in meinem schweizerischen Kinderkopf ein Gedanke kam: „Bin ich noch in Deutschland? Oder ist das schon die Ukraine?“ Dabei wusste ich nichts über die Ukraine. Jetzt aber begann ich, mir die Ukraine vorzustellen.

 Als ich endlich ankam, war ich froh, dass mein Onkel – eben jener um den örtlichen Widerstand gegen die Nazis hochverdiente - mich am Bahnhof erwartete. Er war auf einem Motorrad von BMW vorgefahren und lud mich ein, hinter ihm Platz zu nehmen. Noch erinnere ich mich an alle Detail: Es war ein für mein knabenhaftes Gesäss viel zu breiter Gummisitz. Dann schickte er sich an, Gas zu geben. Da, im letzten Augenblick, war es, als wolle er mir noch etwas Wichtiges sagen. Er drehte sich um, sah mir in die Augen und sagte so unmissverständlich klar, dass es sich mir unvergesslich eingeprägt hat:

 „Damit du´s weisst, wir sind hier für die Braunen.“